Chronologie des Lebens von Said Nursi
Meilensteine eines Lebens, die Jahrhunderten gleichen:
Vorbemerkung
1. Die nachstehende kurze Biographie Said Nursis orientiert sich an der Biographie Şükran Vahides, die 1992 in Istanbul erschienen ist.
2. In ihr wird das Leben Nursis in drei große Abschnitte unterteilt:

- (a) der „Alte Said“,
- (b) der „Neue Said“ und
- (c) der „Dritte Said“.
1878 – 1920 „Der Alte Said“
1878: Said Nursi wird als siebentes Kind einer kinderreichen Familie im ostanatolischen Dorf Nurs geboren.
1887: Mit ca. neun Jahren begann Nursi seine Ausbildung an der örtlichen Madrasa (religiöse Bildungseinrichtung).
1887 – 1891: Gemäß dem damaligen Curriculum erlernte er die Grundzüge der arabischen Grammatik. Der Unterricht stellte ihn jedoch nicht zufrieden, so dass er in den folgenden Monaten immer wieder die Madrasa wechselte.
1891: Schließlich traf er auf Scheich Muhammed Celali, bei dem er eine Weile blieb. Da er den Eindruck gewonnen hatte, dass der Unterricht reformbedürftig sei, konzentrierte sich Nursi auf wenige Schlüsseltexte und absolvierte – für die damalige Zeit ungewöhnlich – das Abschlussexamen (idschaza) innerhalb von drei Monaten. Damit vermochte er zu beweisen, dass Veränderungen notwendig waren. In den anschließenden Diskussionen mit den Gelehrten seiner Heimatprovinz erwies sich Nursi als überlegender Gelehrter, was ihm den Ehrentitel Bediüzzaman (Genius der Epoche) eintrug.
1892: Die Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit, führte ihn zur Einsicht in die Grundprobleme der Gemeinschaft der Muslime.
1893 – 1895 Bitlis
Man nimmt heute an, dass Nursi etwa zwei Jahre in Bitlis lebte, wo er vierzig – nach dem Verständnis des Madrasa Curriculums – Hauptwerke auswendig lernte.
1895 – 1897 Van
Nursi gelang die Gründung einer eigenen Madrasa, in der er seine Ideen einer Bildungsreform umzusetzen versuchte. Gleichzeitig las er alle erreichbaren (Lehr-) Bücher, in denen die damals bekannten Naturwissenschaften dargestellt wurden. So gewann er die Idee einer Universität, in der religiöse, naturwissenschaftliche Lehrer und Forscher gemeinsam arbeiten sollten. Während seines Aufenthaltes in Van wenden sich immer wieder einzelne Stämme an den jungen Gelehrten, um ihn als Mediator in ihren Konflikten zu gewinnen. Dabei zeichnete Nursi sich nicht nur durch persönliche Tapferkeit aus, sondern auch als Friedensstifter.
1907 Istanbul
Gegen Ende des Jahres 1907 reiste Nursi in die Hauptstadt des Osmanischen Reiches Istanbul, um dort für die Idee einer ostanatolischen Universität zu werben. Diese Idee wollte Nursi dem regierenden Sultan, Abdul Hamid II. vorstellen, doch kam es nicht zu dieser Begegnung. Als im Sommer 1908 die zweite Verfassung in Kraft trat, engagierte sich Nursi in Zeitungsartikeln und Aufsätzen für sie. So wurde er Mitglied der Ittihadi-Muhammedi (Muhammedanische Gesellschaft für die muslimische Einheit), was ihn vor ein Kriegsgericht brachte, welches ihn jedoch frei sprach.
1910: Er veröffentlichte unter dem Titel „Nutuk“ einen Sammelband mit Aufsätzen und Reden. Außerdem bereiste Nursi im Sommer dieses Jahres die ostanatolischen Stämme, um sie von der neuen Politik zu überzeugen, denn er war der Meinung, dass der Konstitutionalismus die Einheit und den Fortschritt der islamischen Welt fördern würde. Die zahlreichen Reden und Gespräche jener Monate wurden später in zwei Bänden zusammengefasst veröffentlicht: Muhakemat (Urteilsfindungen, 1911) und Münazarat (Debatten, 1913).
1911: Im Verlauf seiner Reise erreichte Nursi u.a. auch Damaskus, wo man ihn bat in der Omayyadenmoschee eine Predigt zu halten.
1914: Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde aus dem Lehrer der Befehlshaber seiner Provinz und zugleich Kommandeur eines studentischen Freiwilligen Regimentes, dessen Kern seine eigenen Studenten bildeten, mit denen er sich mehrfach u.a. bei der Verteidigung der Stadt Bitlis auszeichnete. In den Kampfpausen diktierte Nursi seinen später bekannt gewordenen Korankommentar „İşaratü‘l-İ‘caz“ (Zeichen der Wunderhaftigkeit und Prägnanz des Korans).
1916 – 1918: Schließlich wurde das Regiment von der russischen Armee gefangen genommen und er selber in ein Lager an der Wolga gebracht, von wo ihm im Sommer 1918 die Flucht über Berlin nach Istanbul gelang.
1918 – 1920: Mit seiner Ernennung zum Mitglied des höchsten Osmanischen Rates für Fragen der Bildung, des „Darü‘l-Hikmeti‘l-Islamiye“, begannen Monate
intensiven Arbeitens, deren Frucht nicht nur eine große Zahl von Publikationen waren, sondern zugleich eines sozialen Engagement, das ihn u.a. Mitglied in der neuen „Gesellschaft des Grünen Halbmondes“ (Yeşilay) werden ließ, die sich gegen die Verbreitung des Alkohols wandte.
1920 – 1950 „Der Neue Said“
1920: Mit Mitte vierzig zog sich der inzwischen so erfolgreiche Gelehrte in die Einsamkeit zurück, um nachzudenken und zu beten, was einen tiefen Wandlungsprozess einleitete, an dessen Ende Nursi zur Erkenntnis gelangte, dass die muslimische Welt sich in einer Krise befände. Nursis Lösung war die Rückbesinnung auf den Koran als Glaubensquelle und die bewusste Entscheidung zum Leben im Glauben. In dieser Zeit schrieb und publizierte er eine Reihe von Arbeiten in arabischer Sprache, die ins Türkische übersetzt unter dem Titel „Mesnevi-Nuriye“ (Harmonie des Lichts) erschienen.
1922: Nach mehrfachen Einladungen der neuen Regierung fährt Said Nursi nach Ankara, wo ihn das Parlament offiziell empfing. Er findet so viel Resonanz, dass man ihm anbietet die eine oder andere Aufgabe zu übernehmen. Allerdings gelang es ihm, die Abgeordneten von der Idee einer Universität in Ostanatolien zu überzeugen. Doch trotz der Bewilligung der staatlichen Fördermittel für diese Universität machten die Umstände den wirklichen Bau unmöglich.
1923-1925: In der für islamische Gelehrte charakteristischen Weise zog sich Nursi aus der Politik und dem gesellschaftlichen Leben zurück, um mit einer kleinen Gruppe von Schülern zu beten und die Schöpfung Gottes kontemplativ zu betrachten. Als im Februar 1925 ein religiös motivierter Aufstand ausbrach, schritt er gegen ihn ein. Dennoch stellte ihn die Regierung unter Aufsicht, verbannte ihn aufgrund seiner Popularität und seines Einflusses beim Volk in den folgenden Jahren von einem Ort zum anderen.
1926 – 1935: In diesen Jahren erscheinen Traktate, Briefe und längere Texte, die später als Nursis Lebenswerk „Risale-i Nur“ (Lichtabhandlungen) bekannt werden. Die Werke setzen sich u.a. mit dem Jenseits, der Verantwortung des Menschen, seinem Glauben und der Offenbarung auseinander. Dabei wuchs seine Popularität ebenso wie der Kreis seiner Schüler, was die Behörden dazu veranlasste, ihn durch ständige Gerichtsverfahren zu verhaften und ihn so von der Öffentlichkeit zu isolieren.
1936-1949: Während seiner langen Wanderung durch Gefängnisse und Verbannungen entstanden insgeheim eine große Zahl von Arbeiten, die seine Schüler auf den unterschiedlichsten Wegen trotz aller Kontrollen erreichten und von diesen abgeschrieben wurden, um danach weiter zu kursieren.
Auf diese Weise entstand ein weiter Kreis von Schülern in allen Bevölkerungsschichten. Schließlich entließ man ihn im Dezember 1949.
1950 – 1960 „Der Dritte Said“
1950: Die politischen Veränderungen in der Türkei brachten nicht nur eine Generalamnestie, sondern zugleich eine Freiheit, die Nursi nutzte.
Ein Jahr später beschloss die Regierung endlich die von ihm so lange ersehnte Universität in Ostanatolien zu bauen. Obwohl sie nicht seiner Konzeption entsprach, begrüßte er die Entscheidung.
1956 – 1960: Erst im Juni 1956 gab ein Gericht in Afyon das inzwischen zur Risale-i Nur, den Lichtabhandlungen, herangewachsene Gesamtwerk des Gelehrten zum Druck frei. Inzwischen sprachen seine Schüler und Außenstehende von seinem Kreis der Schüler als „Nur Cemaati“, der Gemeinschaft des Lichts. In den letzten Jahren seines Lebens reiste er noch einmal zu den 20 Orten seines Lebens. Schließlich starb er am 23. März 1960 in Urfa, wo ihn seine Schüler auch begruben. In einer Nacht und Nebelaktion wurde jedoch sein Leichnam am 12. Juli 1960 auf Befehl der Militärjunta ausgegraben und an einen unbekannten Ort verbracht.
Aus dem Buch: Vahide, Şükran: „Islam in der modernen Türkei – Die intellektuelle Biografie des Bediüzzaman Said Nursi.“ Berlin: Lit Verlag, 2009.